Ach, meine Lieben, setzt euch zu mir, ich hab da was zu erzählen!
Jetzt sitze ich hier, wie eine Dame in ihrem besten Lehnstuhl, direkt am Fenster, und schaue hinaus auf meine alte Freundin, die Holzstabkirche in Hahnenklee. Ach, die gute alte Kirche! Wir beide sind quasi zusammen aufgewachsen, als Nachbarinnen und Freundinnen – fast wie Schwestern, wenn man so will. Wir sind zusammen durch Stürme gegangen, haben den Schnee des Winters überstanden und uns immer wieder am Frühling erfreut. Ach, wie ich mich freue, wenn ihre Glocken erklingen! Das ist ihr Weg, mir zuzuwinken, mir ein „Hallo“ zuzurufen, wie eine Freundin, die mir das Neueste aus dem Dorf berichtet.
„Ding, dong, ding!“ höre ich sie rufen. Hörst du es auch?
Die Glocken, die sanft in den Wind greifen und mir ihre neuesten Geschichten erzählen. Es ist, als würden ihre Klänge wie Schmetterlinge zu mir herüberflattern, jedes Läuten ein sanfter Kuss auf meiner alten, knarzenden Fassade. Manchmal, wenn ich die Augen schließe – ja, das kann ich noch – stelle ich mir vor, wie die Töne in meinem großen, leeren Saal tanzen. Ach, wie ich das vermisse, die Musik, das Leben! Aber die Kirche, sie ist ein fröhlicher Vogel, der mir die Welt erzählt, von den Wanderern, die ihre steilen Treppen erklimmen, von den Kindern, die mit ihren roten Gummistiefeln durch die Pfützen springen, und von den stillen, ernsten Gesichtern derjenigen, die bei ihr Zuflucht suchen. Manchmal spielt sie mir ein kleines Lied, fast wie eine leise Erinnerung an die Zeiten, als meine Räume noch von Musik erfüllt waren. Diese Lieder, meine Lieben, sind wie kleine Geschenke, wie ein Lächeln aus der Ferne.
Wisst ihr, ich denke oft darüber nach, wie es wäre, wenn wir beide – die Kirche und ich – uns unterhalten könnten wie in alten Zeiten, wenn wir noch jung waren. Sie könnte mir von ihren neuen Entdeckungen erzählen, von den Wanderern und den Pilgern, die in ihre Hallen eintreten, und ich, ich würde ihr von den tapferen Urbexern erzählen, die sich in meine verlassenen Räume wagten, auf der Suche nach einem Stück Geschichte, nach einem Hauch von dem, was ich einmal war.
Wir beide, die Kirche und ich, wir haben mehr erlebt, als man sich vorstellen kann. Wir haben Zeiten gesehen, in denen Hahnenklee ein lebendiges Treiben war, und Zeiten, in denen die Stille sich wie eine Decke über den Ort gelegt hat. Doch egal, was auch passiert, wir sind noch immer hier, nebeneinander, wie zwei alte Damen, die sich nie verlassen haben. Und jedes Mal, wenn ich das Läuten ihrer Glocken höre, weiß ich, dass ich nicht allein bin. Es ist, als würde sie mir ein Zeichen geben, dass es weitergeht, dass es immer weitergeht, und dass auch für uns alte Damen noch ein Funken Leben bleibt.
Ich halte die Stellung, schaue hinaus zu meiner Freundin, lausche ihren Geschichten und warte darauf, was das Leben noch für uns bereithält. Denn eines habe ich in all den Jahren gelernt: Es ist nie zu spät für ein neues Kapitel, und man ist nie wirklich allein, solange man Freunde hat, die einem zuhören.
Also, wenn du mal in Hahnenklee bist, hör genau hin. Vielleicht hörst du auch das Lachen der Vergangenheit oder ein leises Lied, das nur für dich gespielt wird. Bleib einen Moment stehen, schließ die Augen und hör zu. Denn auch wenn unsere Mauern bröckeln, die Erinnerungen, die bleiben.
Eure weiter lauschende Viktoria Luise